September 2020 Finanzwelt

DER VATER DES DAX

Manfred Zaß zählt zu den Wegbereitern des elektronischen Börsenhandels. Den Wandel der Zeit am Aktienmarkt schildert der Finanzexperte im creditshelf Magazin.

Manfred Zaß, Wegbereiter des elektronischen Börsenhandels

Manfred Zaß …

… war bis 2015 Vorsitzender des Aufsichtsrats der DES Deutsche EuroShop AG und 2008/09 Aufsichtsratsmitglied der Hypo Real Estate Bank AG. Bis 2002 hatte er den Vorstandsvorsitz der DGZ/Deka- Bank für drei Jahre inne. Zuvor war der gelernte Bankkaufmann fast 35 Jahre lang für die Deutsche Girozentrale, Deutsche Kommunalbank tätig – von der Vertretung in Paris und weitere Stationen im Ausland über die Börsenabteilung bis hin zum Vorstand, dem er 19 Jahre angehörte. Heute genießt der 79-Jährige seinen Ruhestand und begleitet das Finanz und Börsengeschehen als Beobachter und Kommentator.

Der tatsächliche Geburtstag des Deutschen Aktienindexes DAX ist schwer zu greifen. Die Frankfurter Börse selbst feiert den 1. Juli 1988. An diesem Tag wurde der erste Tagesschlussindex mit 1.163,52 Punkten veröffentlicht. Der Weg dahin war jedoch lang. Als Manfred Zaß das Börsengeschäft von der Pike auf erlernte, gab es in Frankfurt etwa 20 aus Aktien und Obligationen abgeleitete handelbare Produktvarianten. Das gesamte Geschäft war weit entfernt von den heutigen Dimensionen mit ihren zigtausenden Produkten. Die acht deutschen Börsen waren in der Obhut der jeweiligen Bundesländer mit ihrer eigenen Börsenaufsicht; es gab acht verschiedene Kassenvereine und zwei Rechenzentren mit unterschiedlichen Systemen.

Bereits 1989 begann jedoch das digitale Zeitalter im Handelsbereich der Frankfurter Wertpapierbörse. Makler konnten ihre Börsengeschäfte über Datenstationen erfassen und elektronisch weiterverarbeiten. Ein Jahr später erfolgte der nächste Schritt: Mitgliedsfirmen der Börse erhielten die Möglichkeit, über eigene Terminals mit dem Börsencomputer zu korrespondieren. Die Börsen-Daten-Zentrale wurde schon 1970 gegründet als Rechenzentrum, sie unterstützte lediglich die Wertpapierabwicklung der Frankfurter Börse.

Kampf um Börsenzentralisierung

Die Banken – allen voran die Großbanken – erhöhten an den Regionalbörsen den Druck: Ziel war es, einen führenden deutschen Börsenplatz zu entwickeln. „Ich musste Ende der 80er Jahre Düsseldorf und Bremen überzeugen, Frankfurt zum deutschen Börsenzentrum zu machen“, erinnert sich Zaß. „Der damalige NRW-Wirtschaftsminister Jochimsen vertrat vehement die Interessen von Düsseldorf, dem damals mit Frankfurt gleichgewichtigen Handelsplatz. Letztlich siegte die normative Kraft des Faktischen, weil die Bundesbank Frankfurt unterstützte und auf einen starken Handelsplatz mit einer digitalisierten, zentralen Einheit drängte.“ Der Durchbruch gelang, die Deutsche Börse wurde kreiert, die sieben anderen Börsenplätze erhielten zusammen 15 Prozent Anteile an der AG. Gemeinsam mit den entmachteten Börsenmaklern, die zehn Prozent erhielten, konnten sie auf eine Sperrminorität an der Deutschen Börse verweisen. „Es war eine schöpferische Zerstörung: Die früheren Teilnehmer stellten sich selbst ganz oder teilweise in ihrer bisherigen Funktion  in Frage“, sagt der Börsenexperte.

Bereits 1991 hatte man das Inter-Banken-Informations-System IBIS gewandelt zum Integrierten Börsenhandels- und Informations-System IBIS 2. Es wurde Ende 1997 vom XETRA-System abgelöst. Xetra steht für exchange electronic trading, also den elektronischen Börsenhandel. Mit der neuen Technik war über den Tag auch eine fortlaufende Notierung der Kurse möglich, wie bereits an der 1990 gegründeten Deutschen Terminbörse Eurex. Was fehlte, war ein moderner Index. Frankfurter Wertpapierbörse, die Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Wertpapierbörsen (ADW) und das Fachblatt Börsen-Zeitung entwickelten die Kennzahl. Diese bemisst die Wertentwicklung der 30 größten und – bezogen auf die Streubesitz-Marktkapitalisierung – liquidesten Unternehmen des deutschen Aktienmarktes. Der Index repräsentiert rund 80 Prozent der Marktkapitalisierung börsennotierter Aktiengesellschaften in Deutschland. Erste Namen wurden in die Runde geworfen: „KISS, das Kurs-Informations-System, sorgte bei den englischsprechenden Vertretern für Heiterkeit“, erzählt Manfred Zaß. DAI wurde aus anderen Gründen verworfen.

Es war ein Neufundländer 

Der neue Index sollte ein „X“ im Namen haben, „weil dieser Buchstabe immer häufiger für Börsen-Fachausdrücke eingesetzt wurde, zudem steht er für ‚Exchange‘ und besteht aus symmetrisch angeordneten Linien, was ihn zu einem ausgleichenden Symbol macht“, so Zaß. Beim Spaziergang mit seinem Hund kam ihm dann der Gedanke: DAX – Deutscher Aktien-Index. Auch wenn kolportiert wurde, Zaß sei mit einem Dachshund unterwegs gewesen oder einem Labrador – es war ein Neufundländer, wie er uns verriet. „Die sprachliche Nähe zum Dachs war aber insofern eine glückliche Fügung, da wir neben Ibis, Bulle und Bär eine weitere Tiersymbolik für den neuen Index fanden. Da gleichzeitig das Börsenfernsehen in Frankfurt Einzug hielt, wurde der DAX schnell in deutschen Wohnzimmern zu einem Leuchtturm des Börsensystems.“

Und wie sieht Manfred Zaß heute sein „Kind“? „Der DAX hat sich als Kursbarometer und in fortgeschriebener Konzeption positiv entwickelt, wie die gesamte Deutsche Börse. Wie bei Bäumen, so kommt es auch bei den Börsen auf eine gesunde Basis, die Wurzeln, an. Ohne sie ist kein Wachstum möglich“, lautet seine spontane Antwort. Die Börse sei zwar eine Institution, die einen privaten Mantel erhalten habe. Im Kern sei bei dem Monopolcharakter ihrer Handelsaktivitäten aber eine Mischung aus öffentlich-rechtlichem Auftrag und privater AG gelungen, die von der staatlichen Aufsicht begleitet wird.

Beobachter der „Explosion der Vielfalt“

 Manfred Zaß ging 2005 offiziell aus den Börsengremien in den Ruhestand. Große Teile der sprunghaften Entwicklung begleitete er als Beobachter. Die „Explosion der Vielfalt“ mit kaum noch überschaubaren Produktvariationen, den Rückgang der Bedeutung des Aktienkassahandels früherer Prägung und die breiter gewordenen Möglichkeiten der Spekulation auch über die Terminmärkte sieht er nicht ohne Sorgenfalten. „Diese Entwicklung treibt mir gelegentlich Schweißperlen auf die Stirn, zumal die ‚Stoßdämpfer‘ im Markt schon vor der Finanzkrise 2008 durch immer tiefer gestaffelte, verfeinerte Gestaltungskonzepte reduziert wurden. Die Aufsicht ist heute kaum noch in der Lage, dem Tempo der Turbowelt von Aktien und davon abgeleiteten Produkten zu folgen. Das anglo-amerikanische Börsendenken gewinnt immer mehr die Oberhand. Auf einen Schwarzen Schwan, also ein unerwartetes, mächtiges Ereignis, wie die Corona-Krise oder im aktuellen Einzelfall Wirecard, ist das System nicht eingestellt“, kritisiert der 79-Jährige.

Den Verantwortlichen in mittelständischen Unternehmen gibt er eine Börsenweisheit mit auf den Weg: „Legen Sie nicht alle Eier in einen Korb, setzen Sie nicht alles auf eine Karte, wenn Sie erfolgreich sein wollen. Eine perfekte Digitalisierung ersetzt noch kein tragfähiges Unternehmenskonzept. Der Zweifel muss auch hier immer seinen Platz haben. Denn man kann vieles sekundenschnell bis auf die x-te Stelle nach dem Komma berechnen, diese Schein-Perfektion ersetzt jedoch nicht verantwortungsvolles Management durch die Unternehmensführung. Risiken und Chancen abwägen, das ist die Aufgabe des Unternehmers. Und dabei sollte man stets berücksichtigen: Management heißt auch immer Entscheiden bei Unsicherheit. Auch bei Wagen und Wägen gilt die englische Weisheit: There is no free lunch.“

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